"Bach and More" - Perfektes Zusammenspiel mit Ausdruck:
Bronnbach: Das Jazztrio mit Olaf Kordes, Klavier, Wolfgang
Tetzlaff, Bass und Karl Godejohann, Schlagzeug gab unter dem etwas zweideutigen
Titel „Bach and More“ am vergangenen Samstagabend im Bernhardsaal von Kloster Bronnbach
eine musikalische Geschichtslektion in Gestalt eines hochinteressanten
Konzerts. Es ging dabei natürlich nicht darum, den musikalischen Giganten zu
toppen - eine Idee auf die niemand kommen wird, der noch einigermaßen bei Trost
ist - , sondern es ging um die interessante Frage, wie wir heute angemessen mit
einer Musik umgehen, deren Urheber vor 264 Jahren das Leipziger Jammertal
verlassen hat und der viele Jahrzehnte im allgemeinen Bewusstsein völlig
vergessen war. Obwohl seine
Kompositionen nur in Abschriften unter Insidern kursierten, hat Bach alle
nachfolgenden Komponisten-generationen wie kein anderer beeinflusst. Nicht
indem sie ihn ständig kopierten, sondern indem sie seinen Umgang mit Harmonik
und Stimmführung, seine Art, Motive zu entwickeln, seine musikalische Logik in
ihr jeweils eigenes Werk integrierten und so kreativ nutzten.
Entwicklung:
Genau dieses Verfahren konnte bei dem Jazztrio am Samstagabend bei allen Stücken von Joh. Seb. Bach beobachtet und genossen werden, etwa beim Opener des Konzerts, der Fuge in C-Moll aus dem 1. Band des Wohltemperierten Klaviers. Diese Fuge wurde nicht einfach gut heruntergespielt, wie man es sonst aus dem Konzertsaal kennt, sondern sie wuchs heran, sie wurde entwickelt, so wie ein indischer Sitarmeister einen Raga entwickelt, hier in kurzen Stichpunkten skizziert: vor einem dezenten Beckenrhythmus entspann sich ein Dialog von Klavierakkorden in C-Moll und kurzen Bassfiguren, ein dezenter vorwärtstreibender Rockgroove des Schlagzeugs, die Anfangstakte des Praeludiums zur Fuge, dann das Anfangsmotiv des Fugenthemas, das ein Eigenleben entwickelte, ein zweiter Beginn des noch unvollständigen des Themas, die ersten kompletten Takte der Oberstimme, Beginn der polyphonen Struktur mit dem Themaeinsatz im Bass und eine verfrühte Schlusskadenz. Dann erschien ein längerer kompletter Anfang der Fuge bis zur ersten Kadenz. In der Mitte des Stück gab es plötzlich einen überraschenden Ruhepunkt , wo die Musik quasi neue Kraft schöpfte und in einem längeren Solo mit Motiven der Fuge und weiteren Elementen des Anfangs wieder Fahrt aufnahm bis zu dramatischen Akkordblöcken und der originalen Schlusskadenz der Fuge. Erst jetzt, im letzten Viertel des Stück erschien die Fuge von Bach endlich komplett, als Ergebnis einer langen und folgerichtigen Entwicklung . Als Coda erklangen schließlich noch Erinnerungen aus der Einleitung, einschließlich des Praeludiummotivs. Dieses offene, prozessartige Aneignen der Fuge in vielen Anläufen wurde deshalb etwas detaillierter beschrieben, weil hier das Vorgehen exemplarisch auch für die anschließend gespielten Stücke dargestellt werden konnte. Basis und Grundvoraussetzung für dieses Vorgehen ist ein perfektes Zusammenspiel der drei Musiker, wobei mir vor allem auch das außerordentlich sensible, gleichzeitig mit gestaltende und dezente Schlagzeugspiel Karl Godejohanns, meist mit Besen, besonders gefiel, der oft die Tom-Toms und die Snare als Melodieinstrumente in der Art von Max Roach einsetzte.
Beim zweiten Stück, der Siciliano aus der Querflötensonate
BWV 1031 übernahm der Bass die komplette Stimme der Querflöte. Aus dem
Sicilianorhythmus entwickelte sich bruchlos im Mittelteil ein Klaviersolo im geraden Takt, das über einer achttaktigen
Akkordfolge des Originals Motive aus dem Thema rhythmisch und melodisch
variierte.
Zum Schluss erklang das Thema noch einmal, jetzt gespielt
von Bass und Klavier.
1959 veröffentlichte Jaques Loussier seine erste Platte
„Play Bach“ mit Bachadaptionen. Der französische Pianist konzertiert bis heute,
unterbrochen nur durch seinen Zweitberuf als Winzer. Da Olaf Kordes mit seinem
Jazztrio u.a. auch auf diesem Konzept Loussiers
aufbaut, wurde als drittes Stück dessen Bearbeitung des 1. Satzes aus
dem 5. Brandenburgischen Konzerts, dem ersten Klavierkonzert der Musikgeschichte, gespielt. Die Soloepisoden verwendeten
zunächst Anklänge an das thematische Material des Originals. Statt des großen
Klaviersolos im Original in der 2. Hälfte des Satzes, erklang hier ein ausgedehntes Schlagzeugsolo.
Es folgte, als stimmungsvolle Ballade gestaltet, das Agnus
Dei von Nikolaus Decius, das Bach im Eingangschor der Matthäuspassion beim
Knabenchor verwendet. Diese Fassung folgte der Standardform
Thema-Improvisation-Thema mit der Schlusszeile als Refrain.
Zum Schluss des ersten Teils des Konzerts gab es in Gestalt von „Salute to Bach“ von
Oscar Peterson eine Komposition eines der größten Pianisten des 20 Jh. , der
sich auch sein Leben lang mit Bach beschäftigte. Das Stück entstand 1985 zum
300. Geburtstag des Meisters und besteht aus zwei Teilen, wobei der 2. Teil
eine Art Fugenthema in einer 32 taktigen Songform verwendet.
Gospelartige Stücke:
Der zweite Teil des Programms, in dem Bach durch vorwiegend
lied- oder gospelartige Stücke ersetzt wurde, begann mit einem Musicalsong von
Cole Porter „My Heart Belongs To Daddy“, eine Komposition, die zwei, in
Rhythmus und Tonart kontrastierende Teile verwendet, die auch in der
Klavierimprovisation deutlich erkennbar bleiben.
Es folgte „Chisa“ , ein Werk des bedeutenden südafrikanischen
Pianisten und Grimme-Preisträger von 2005,
Abdullah Ibrahim. Das Stück klingt wie eine Einleitung einer
Gospelnummer und besteht eigentlich nur
aus einer einfachen , vier Takte langen, Kadenz. Darüber eine interessante
Improvisation zu entwickeln ist nicht leicht. Olaf Kordes gelang es u.a.
dadurch , dass er zur ersten Hälfte des Themas verschiedene Zitate als
Fortsetzung spielte. Am Ende gab es keinen Schluss, sondern das Stück löste
sich allmählich ins Nichts auf.
Nach einem weiteren Song von Cole Porter, „The Way You Look
Tonight“, wieder aus einem Musical und im Stil Oscar Petersons sehr schön fett
harmonisiert, spielte das Trio „Sway“, bekannt auch als „Quién Será?“ Die lange
sehr ruhige Einleitung , vom Bass teilweise zweistimmig gespielt, mündete in
der zweiten Hälfte in eine rasche Samba mit call-response - Strukturen zwischen
den beiden Händen des Pianisten. Der Schluss kehrte wieder zum ruhigen, fast
klagenden Charakter des Anfangs zurück.
Es folgte „Cape Town Flower“, eine hymnische Ballade von
Abdullah Ibrahim mit einem riesigen Spannungsbogen und wieder gospelartigen
Akkordfolgen. Das Stück wurde so ausdrucksvoll gespielt, dass es ruhig hätte
zwei Stunden lang dauern können. Auch
hier gelang dem Trio ein sehr stimmungsvoller schwereloser Schluss.
Das letzte „Wort“ hatte noch einmal Oscar Peterson, der mit
„Hymn to Freedom“ oft seine Konzerte beendete. Wie Abdullah Ibrahim hat Oscar
Peterson zeit seines Lebens, natürlich auch aufgrund eigener Erfahrungen gegen
Rassismus gekämpft. Die „Hymn To Freedom“ wurde von Martin Luther King zum
Symbol der Bürgerrechtsbewegung gemacht und auch bei der Amtseinführung Obamas gespielt. Das Trio
spielte die Hymne, die von einem etwas zu agogisch gehaltenen Klaviersolo
eingeleitet und beendet wurde, sehr kraftvoll und mit starkem Ausdruck.
Nach dem langen Schlussapplaus des begeisterten Publikums im
Bernhardsaal gab es noch zwei Zugaben: „Over the rainbow“ stimmungsvoll im
langsamen Dreiertakt und ein afrikanisches Schlaflied mit ganz wenig Tönen, das eine wunderbare
Ruhe ausstrahlte und am Ende ins Nichts
entschwebte.
Fazit: Das Trio mit Olaf Kordes , Wolfgang Tetzlaff und Karl Godejohann erwies sich als perfektes Kammermusikensemble mit intensivem Zusammenspiel und Ausdruck. Seine Stärke lag besonders in den Phasen von Einleitung, Überleitung und Schluss, also im kreativen Umgang mit vorgegebenen Material, sei es Jazzstandards oder Werke vom Meister Bach. Wäre Bach ganz zufällig durch eine wenn auch unwahrscheinliche Zeitreise bei dem Konzert im Bernhardsaal zugegen gewesen, hätte er dieses ganz sicher „mit großem Beyfall und eitel Freude ästimieret“.
Eberhard Feucht, FN